Josef Heinsch, „Grundsätze vorzeitlicher Kultgeographie“

Comptes Rendus du Congrès International de Géographie, Amsterdam, 1938, Section V, 90–108.

Heinsch, a regional planner in Germany, developed his landscape-geometry theories in the 1930s. He published them in various places, the most accessible being this paper delivered to the Geographical Congress in Amsterdam in 1938. His theories became known to the Straight Track Club in England, and an English translation by R.P. Jones (which I have not seen) was summarized in F.C. Tyler’s book The Geometrical Arrangement of Ancient Sites; from there Heinsch’s theories were quoted in John Michell’s influential work The View Over Atlantis (Sago edition, 1969, p. 21).

Principles of prehistoric sacred geography Englische Flagge

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GRUNDSÄTZE VORZEITLICHER
KULTGEOGRAPHIE

Dr. HEINSCH

Moers (Rhld)


Eine systematische Volk- und Land-Raumordnung durch unsere „primitiven” heimatlichen Vorfahren mag manchem zunächst entwicklungsgeschichtlich unvorstellbar erscheinen. Das Erstaunliche dieser Tatsache verliert aber auch für die nüchtern verstandesmässige Überlegung an Unglaublichkeit, wenn man sich klar macht, dass das in der Eiszeitkunst zum Ausdruck kommende überragende Können damaliger Menschen heute unumstritten ist, obwohl der internationale Anthropologenkongress in Lissabon noch vor 50 Jahren auch nur die Besichtigung der heute allgemein bewunderten Höhlenmalereien von Altamira als einfach unglaublich ablehnte und damit das Zur-Geltung-kommen ihrer – nach Kuhn „Kunst und Kultur der Vorzeit Europas” – „alle eingewurzelten Begriffe umstürzende” Entdeckung um einige Jahrzehnte zurückwarf. Dieser Hinweis auf die eigenartig „vollendeten, künstlerisch wie technisch durchgebildeten” Malereien „primitiver Höhlenmenschen” sei vorausgeschickt, weil nicht nur ihre denkwürdige Entdeckungsgeschichte zu einem unvoreingenommenen „Erst prüfen – dann Urteilen” mahnt, sondern vor allem, weil gerade das in der Eiszeitkunst zum Ausdruck kommende ungewöhnliche Form-erfassungs- und Gestaltungs-Vermögen vorzeitlicher Menschen einer von der unsrigen verschiedenen „magischen Naturanschauung” auch Skeptiker zu einsichtigem Verständnis führen kann für die gewiss ebenso überraschenden Wiedererkenntnisse einer vorzeitlichen Kultgeographie.

Das die geographische Wissenschaft angehende bisherige Ergebnis der vom Berichterstatter in jahrelanger fruchtbarer Zusammenarbeit mit Pater Joh. Leugering M.S.C.Missionarius Sacratissimi Cordis betriebenen Forschungen an diesem Gebiete lässt sich im Wesentlichen mit folgenden – durch vielfache Tatsachenfeststellungen erwiesenen – 7 Grundsätzen umreissen:

1. Schon in weit vorgeschichtlicher Zeit – vermutlich bei der ersten menschheitlichen Ackerbausiedelung in der Steinzeit – sind grosse Landgebiete genauestens eingeteilt und vermessen worden.

2. Diese alte Landraumordnung zeigt sich umfassend einheitlich – im Orient gleicherweise wie im Norden Europas – angelegt und weitergeführt a nach bestimmten Winkeln (Azimuten zur astronomischen Nordsüdachse) und b ebenso übereinstimmenden Entfernungsmassen.

3. Den wiedererkannten Massgesetzen der Landschaftsortnung entsprechen nach Winkel, Längenmass und Zahl die Massverhältnisse, welche später in den regelrecht errichteten Kultbauten – den nordischen Steinkreisen und orientalischen Tempeln wie christlichen „Gotteshäusern” – festgehalten wurden und ihnen noch heute wirksamen kosmisch-sakralen Charakter verleihen. {91}

4. Die kultisch in der Natursichtigkeit – der „magischen Schau mikro-makrokosmischer Bezüglichkeiten – vorzeitlicher „Primitiver” begründete Masskunst und ihre Anwendung auf die landschaftliche Raumgestaltung steht an Genauigkeit dem technischen Können neuzeitlicher Geodäten kaum nach. Sie erstreckt sich ursprünglich auf alle irgendwie bedeutsame Örtlichkeiten, namentlich die Opfer- und Tingplätze sowie die Grenzmarken.

5. Deren Anordnung zueinander erfolgte – ihrer unterschiedlichen Bedeutung und Zweckbestimmung entsprechend – nach allgemeingültigen Grundregeln: überall von der genauen Nordsüdachse, dem „Massbaum” der Edda, und den alten „Gottesbergen” als Hauptkultzentren ausgehend. Sie ist – zufolge der durchweg konservativen Beibehaltung der heidnischen Kultplätze und ihrer Besetzung mit Kirchen und Kapellen oder Moscheen bei der christlichen bezw. mohammedanischen Gleichschaltung – in den Grundzügen zumeist noch heute wiedererkenntlich und verleiht örtlich der völkischen wie landschaftlichen Ordnung ein wesensgründliches Gepräge.

6. Die neben der grundlegenden Landestriangulation auf 30° und 60° sowie Ortungsbezügen auf den Diagonalen des Quadrates (45°) und Doppelquadrates (ca. 26,5°) vornehmlich für die alte Landschafts-Raumordnung massgebenden sakralen Winkel sind in dem hier wiedergegebenen

Grundschema der Gottesberg-Sonnenort-Ortung

Abb. 1. „Grundschema der Gottesberg-Sonnenort-Ortung” 1)

1) = Abb. 2 des Sonderdrucks der „Allgemeinen Vermessungs-Nachrichten”: Dr. Heinsch, Vorzeitliche Ortung in kultgeometrischer Sinndeutung (25 Seiten mit 25 Abbildungen zu beziehen vom Wichmann-Verlag. Berlin, Karlstr. 14 für 1,10 RM).

{92} anschaulich aufgezeigt. Die Grundlinie dieses Ortungssystems verbindet zwei regelmässig wiederkehrende Hauptkultorte:

a den ursprünglich vornehmlich mondkultbetonten und demzufolge häufig christlich „Unserer lieben Frau” gewidmeten Gottesberg im Westen mit b dem in Osten davon – mit 6° Anweichung nach Nord oder Süd – auf 84° bezw. 96° gelegenen einstigen Sonnenort, der christlich vielfach St. Johannes dem Täufer geweiht ist. Weil diese Grundlinie mit dem Winkel von 6° nach der Rechenweise der Alten im rechtwinkligen Dreieck ganzzahlig mit dem Kathetenverhältnis 19:2 und damit – (192 = 361 + 22 = 4) – das Hypotenusenquadrat 365 figuriert, wurde sie als „Sonnenjahrlinie” gekennzeichnet. (Abb. 2).

Vom Gottesberg zum Sonnenort führt die Sonnenjahrlinie

Abb. 2. Vom Gottesberg zum Sonnenort führt die Sonnenjahrlinie   19:2 = √365.

7. Als Ur-Längenmass erweist sich nicht nur für die alte Landschaftsortung, sondern auch für die späteren Sakralbauten das – erst in der französischen Revolution profanierte – Metermass, welches als der zehnmillionste Teil des Erdquadranten kosmisch bedingt ist. Die ältesten nord- wie ostländischen Grundmasse lassen sich namentlich über das 7-fache als Kreisdurchmesser- und das 11-fache als Kreisumfangs-zahl – nach dem ganzzahligen Pi = 22:7 – durchweg mit ganzzahligen Brüchen auf das Metermass zurückführen.

Einige Belege zum Beweise

der Wohlbegründetheit dieser Thesen seien hinzugefügt: zunächst hinsichtlich der letzten vom Meter als einheitlichem Ur-mass.

Nicht zufällig ist der Durchmesser des grössten Steinkreises bei Odry in Westpreussen (jetzt PolenN 53° 53′ 54″, O 17° 59′ 35″) wie des rekonstruierten Stonehenge of Salisbury mit 31,5 m (Kreisumfang 99 m) genau dreimal so breit wie das Allerheiligste des salomonischen Tempels von 20 hl. Ellen je 0,525 m = 10,5 m in Breite mit 33 m Kreis- und 42 m Quadratumfang (vgl. Abb. 3 und 4).

Die altehrwürdige „Notre Dame de Paris” misst nach der Aufmessung des Norwegers Macody Lund („ad quadratum” Paris 1922) in der Breite 42 m bei dreifacher Länge und Höhenstufungen von 11 m, 22 m und 33 m; und die Kuppel der Peterskirche in Rom ist von Bau-meistern wie Bramante und Michelangelo gewiss nicht „masslos” mit einer Breite von 42 m gestaltet. Die 12 grössten Säulen des Mittelganges im Amuntempel von Karnak sind 21 m hoch und selbst einem in Uruk-Warka (Irak) neuerdings freigelegten Tempel- oder Palastgrundriss aus der Zeit der ersten Blüte sumerischer Kul{93}tur liegt ein Quadrat von 21 m zu Grunde derart, dass durch dessen 42-teilung, also mit dem Grundmass von ½ m, die Mauerstärken und Raumabmessungen durchweg ganzzahlig werden.

Allerheiligstes Quadrat, Bundeslade und Gottesbergortung

Abb. 3. Allerheiligstes Quadrat, Bundeslade und Gottesbergortung 3:5 = 59°.
Gleiche Massverhältnisse in den Sakralbauten wie der alten Raumordnung der Landschaft.

Quadrat, Doppelquadrat und Dreifachquadrat

Abb. 4. Quadrat, Doppelquadrat und Dreifachquadrat, die Grundformen alter Sakralbauten, mit der Gottesbergzahl 42 in Metern Grundriss von Notre Dame de Paris.

Nun ist 42 die Masszahl des Gottesberges wie 84 die seines Gipfels, nicht nur nach der „Kosmographie der Inder” (Kirfel, Bonn 1920) vielmehr nach vielfach übereinstimmender alter Kult-überlieferung. In Ägypten war das Reich in 42 Gaue eingeteilt, und 42 Totenrichter urteilten über die abgeschiedenen Seelen, ob sie frei waren von 42 Sünden. Auch in der Bibel findet sich die 42 mehrfach an beachtlichen {94} Stellen z.B. Buch der Richter 12, 6; I. Buch der Könige 9, 28; Offenbarung Johannes 11, 2; 13, 5; und Christus selbst erfüllt das Gesetz der 42, wie gleich das erste Kapitel des neuen Testamentes mit der Aufzählung seiner Geschlechterreihe von 3 mal 14 beweist. Gleicherweise blieb aber auch in der nordischen Überlieferung alter Offenbarungsweisheit das Wissen um einen 42-stufigen Ab- bezw. Wiederaufstieg vom Himmlischen zum Irdischen bewahrt durch das astrologische Eddalied „Grimnismal”, welches dem Odhin ausgerechnet 42 mysteriöse Beinamen gibt, und selbst in der mündlichen Sagenüberlieferung heisst es noch von Wodans wilden Jägern: „Es waren ihrer 42”.

Auf Grund solcher Zusammenschau erscheint es schliesslich nur natürlich, dass auch die Steinkreise bei Odry als Kernstück der Anlage ein durch die Mittelpunkte der Steinkreise III, IV und X sowie die Hügelhöhen 8 und 5 eindeutig gekennzeichnetes Doppelquadrat von genau 42:84 m enthalten, wie es die Abb. 5 veranschaulicht:

Grundriß der Steinkreise zu Odry in Polen

Abb. 5. Zu den sakralen Winklen gehören kosmische Längenmasse:
in Metern aus nordischen Steinkreisen entwickelt.

Der durch Regierungslandmesser Stephan schon in der Vorkriegszeit aufgenommene Lageplan im Masstabe 1:400, der mir im Som{95}mer 1936 verfügbar wurde, ermöglichte es dank einer genau eingezeichneten astronomischen Nordsüdachse, die schon vorher aus der Landschaft erkundeten und mit dem „Grundschema” veröffentlichten „sakralen Winkel” der Gottesberg-Sonnenort-Ortung auch in dieser vorzeitlichen Anlage in überraschender Fülle und Klarheit massgerecht nachzuweisen. Das hier gebotene Kartenbild zeigt nur ein Teilergebnis im Ausschnitt:

Der Umfang des grössten Steinkreises von 31,5 m Durchmesser ist mit genau 99 m in eine auf dem Azimut von 59° verlaufende Gerade gebracht, welche vom Steinkreismittelpunkt ausgehend zum Gipfel der höchsten Höhe 3 führt. Dieser Winkel von 59° ist noch einmal als Verbindungslinie des Steinkreiszentrums IX mit Hügelhöhe 9 in 44 m Länge figuriert und ein drittes mal (spiegelbildlich verlaufend) als Verbindung des Steinkreises II (inmitten des zentralen Doppelquadrates) mit dem östlichsten Steinkreise XI in 110 m Länge. Er erscheint in der Landschaft – regelmässig von dem Hauptgottesbergzentren ausgehend – wiederkehrend mit dem Kathetenmassverhältnis 3:5 (dem des goldenen Schnittes, des sectio divina) und so in Übereinstimmung mit dem der Bundeslade, welche – ein Rechteck von 1,5:2,5 hl. Ellen – einem Umfang hatte von 2 mal 4 mal 0,525 = 4,2 m, dem zehnten Teile des allerheiligsten Quadrates von 42 m Umfang (vgl. Abb. 3).

Von den vier im Bilde wiedergegebenen 96°-Parallelen, sog. „Sonnenjahrlinien”, zeigt die von der Hügelhöhe 16 zum Steinkreiszentrum X verlaufende auch das Kreisumfangmass 99, während die vom Steinkreiszentrum III zur Hügelhöhe 4 und die vom Zentrum des westlichsten Steinkreises IV zum vorerwähnten höchsten Hügel 3 mit 105 m und 157,5 m Kreisdurchmessemasse haben. Auch hier ist die Übereinstimmung der Längenmasse der nordischen Steinkreise mit den Tempelmassen des Ostens unverkennbar: 99 m ist gleich dem dreifachen Umfange des dem allerheiligsten Quadrate einbeschriebenen Kreises, 105 m gleich dem Zehnfachen seiner Breite und 157,5 gleich dem 50-fachen derselben, damit zugleich gänzlich übereinstimmend mit der Länge der Arche Noahs von 300 hl. Ellen je 0,525 = 157,5 m:

Rechteck mit Seiten 300 Meter und 50 Meter

Abb. 6. Massgleichheit im Osten und Norden: 300 Ellen = 157,5 m.

zudem aber vor allem auch gleich dem ägyptischen Stadium des durch seine erste geschichtliche Erdkugelmessung berühmten Eratosthenes († um 200 v. Chr.) = 1/40 schoenus = 6300:40 = 157,5 m, ein Mass, zu dem der verdienstvolle Wiederherausgeber der ältesten Weltkarten K. Miller („Die Erdmessung im Altertum und ihr Schicksal” Stuttgart 1919) versichert, er habe keinen Zweifel, dass Eratosthenes mit der Gleichung 1° = 700 Stadien rechnete, nämlich {96} mit dem 60-stel-Kreis = 4200 Stadien und wieder mit der 6-teilung dieses Abschnittes.

Hinzugefügt sei, dass „der schoenus als partisches Längenmass von Herodot zu 60 Stadien = 11 km gerechnet wird”. Und dass dieses Grundmass von 11 km auch für die Landestriangulation im alten Germanien massgebend gewesen ist. Das lässt sich glücklicherweise durch

ein literarisches Zeugnis

auch geschichtsurkundlich nachweisen. Adam von Bremen, der auch als Geograph bedeutende Geschichtsschreiber der Christianisierung Nordeuropas († 1075) berichtet in seinen „Gesta Hammaburgensis ecclesia pontificum” I, 1 vom Sachsenlande, es erscheine „recte metientibus” also denen, die richtig messen, als ein „trigona”, ein Dreieck, dessen westliche Ecke („angelusangulus primus”) am Rhein liege, „eine Pfeilschussweite vom Strome entfernt”, die östliche 8 Tagereisen davon an der Saale und die nördliche zu Haduloh.

Den „angelusangulus primus” am Rhein hat schon 1875 Archivar Böttcher in seinem Werk „Diöcesan- und Gaugrenzen Norddeutschlands” (Bd. I Seite 64) als die 200 m vom früheren Strombett entfernte Grenzecke „am Rubbert” bei Dinslaken genau ermittelt; und neuerdings hat P. Leugering („Hümmling-Emsland” Johannesburg 1936 S. 21) weiter dargetan, dass eine von dieser Westecke nach Osten verlaufende Linie in 8 mal 44 km (= 8 „Rasten”) = 352 km Entfernung an die Saale führt und dass die Nordspitze des „sächsischen Dreiecks” mit dem heutigen Hadeln = Haduloh genau lotrecht über der Mitte dieses also gleichschenkligen Dreiecks liegt. Besonders bemerkenswert ist dazu, dass er den Dom zu Paderborn 33 km und den zu Minden 22 km westlich von dieser Nordsüdachse des Sachsendreiecks gelegen fand.

Der Geschichtschreiber Adam berichtet schlicht und wie selbstverständlich von den „recte metientibus”, welche cardo (Haduloh) und decumanus (vom Rhein bis zur Saale) dieser grundlegenden Triangulation des Sachsenlandes mit der Basislänge von 8 mal 44 = 352 km kannten; und es darf daraus ohne weiteres gefolgert werden, dass solchen Land- und Vermessungs-Kundigen um so mehr auch noch die alten Grundsätze der örtlichen Abgrenzungen und Einordnungen in diesen grossen Rahmen bekannt waren, welche notwendig aus einer Zeit stammen müssen, in der „Volk und Raum” aus kultischen Weltbildvorstellungen durch eine einheitliche – die sesshaft gewordenen Volksglieder räumlich wie zeitlich und beruflich bindende – Ordnung zu einem wirklich organischen Ganzen gebildet und geformt wurden.

Wie sehr damals noch allenthalben diese überkommenen Grundsätze „heiliger Verspannung” wertgeschätzt und hochgehalten wurden, zeigen nicht nur die christlichen Kirchen, Kapellen und Kreuze, mit denen die wichtigsten alten Sakralpunkte des Landes besetzt wurden, sondern vor allem auch die in christlicher Form beibehalte{97}nen feierlichen Prozessionen, jährlichen Umgänge und periodischen Grenzbegehungen, welche überall wie zeitlich im Jahreskalender festgelegt, so auch räumlich durch die uralte Landvermessung an festliegende Örtlichkeiten gebunden waren und blieben. Bis tief ins Mittelalter hinein wurden ihre Grundregeln nicht verletzt und die ersten regelwidrigen Städtegründungen als „aus wilder Wurzel”, d.h. als nicht massgerecht und demzufolge nicht wurzelecht verpönt. In manchen Gegenden Deutschlands sind Kenntnisse von den ungeschriebenen Gesetzen dieser Grenz- und Ortsbestimmung nach Vorväterweise – wenn auch verkümmert – bis in die Neuzeit lebendig geblieben. Insbesondere in Westfahlen, dem Kern des alten Sachsenlandes, scheint selbst die praktische rechtliche Handhabung der überlieferten Grundsätze erst mit dem Untergange der „heimliche Veme” abgestorben zu sein. Jedenfalls müssen sie dort noch im 17. Jahrhundert bei kirchlichen wie weltlichen Behörden massgebende Bedeutung gehabt haben, da bei der Entscheidung langwieriger Streitigkeiten um alte Landesgrenzen noch urkundlich von Vorbereitungen des Urteiles durch besondere Sachverständige berichtet wird, welche „unter allerhand Kuriositäten” in geheimnisvoller Zurückgezogenheit an alten Vermessungs-punkten der Landschaft tätig waren.

Wie ein Urkundsbericht aus dem Jahre 1490 feststellt und die westfählische Gerichtsordnung von 1546 bestätigt, mussten die Freischöffen der rechtmässigen Veme „up roder Erde gemaket” sein. Nun heisst das durch sein hartnäckiges Festhalten an der herkömmlichen obrigkeitsfreien Veme-gerichtsbarkeit bekannte Westfahlenland heute allgemein das „Land der roten Erde”. Diese Kennzeichnung hat ursprünglich nichts – wie man heute wohl meint – mit der roten Farbe zu tun, sondern allein mit der alten Landraumordnung: Es ist geheiligtes, weil mit Roden = Ruten vermessenes Land. Die – in Dänemark bis in die neueste Zeit mit der Länge, 0,314 m (= 1 m Kreisumfang!) in amtlicher Geltung gebliebene – alte „Rode” war ein Grundmass der dem Lande fast unzerstörbar aufgeprägten „heiligen Verspannung”. Und als rechtmässiger Richter der „im Freien, meist unter Linden” tagenden „Freidinge” wurde in diesem Lande nur anerkannt, wer auf dem durch regelrechte Vermessung dazu bestimmten Gerichtsbarkeitsorte ordnungsmässig „bestallt” war. In dieser von der himmlischen einst abgeleiteten irdischen Ordnung richtete sich alles nach der „Gerechtigkeit des Masses.”

Dieser Hinweis mag zugleich als Beweis und Beispiel dafür dienen, wie die Ortsnamenüberlieferung – überall wegweisend – von der alten Raumordnung deutlich spricht und demzufolge die Ortsnamenforschung erst durch rechtes Verständnis für diese natürliche Gebundenheit der alten Namen an die Regeln der Ortung zu einer tiefgründigeren Sinndeutung gelangen und damit eine wirklich zutreffende Ortskunde begründen kann.

In Deutschland würden – um nur bei dem einen angeführten „Rode”-Beispiele zu bleiben – allein schon die zu Tausenden wiederkehrenden Ortsnamen mit der Silbe rade, radesic: rode, rade ?, rot und rat (nach {98} praktischer Erfahrung in den verschiedensten Landesteilen) ebenso viele Anhalts- und Ausgangspunkte für eine systematische Forschung bieten, um nicht nur die ursprüngliche Gebietseinteilung und damit die Grundzüge des Landschaftsbildes weitgehend wieder zu erkunden, sondern überdies auch der ältesten Ortsbedeutung – sei es für den kultischen Opferdienst im gesetzmässigen Verlauf der Jahrestage, sei es für Heerbann, Gerichtsbarkeit, Wasser- und Wegerecht, Wald-, Weide- oder Land-nutzung – durch umfassenderen Vergleich örtlicher Überlieferungen mit den Massverhältnissen der Ortung von Grund auf zu klären.

In anderen Ländern wird in dem Betracht durchaus Entsprechendes gelten, weil die Ortungsgrundsätze – wenn auch natürlich den landschaftlichen Gegebenheiten wie völkischen Bedürfnissen jeweils sinn- und kunstvoll angepasst – sich schon nach den bisherigen Stichproben in England, Frankreich und Palästina – mit überraschender Gleichmässigkeit und weitgehender Übereinstimmung angewandt erweisen.

Unter diesen Umständen darf den hier erst in ihren Anfängen und wenigen wesentlichen Grundzügen darzulegenden Wiedererkenntissen der alten landschaftlichen Raumordnung auch einige und nicht unwesentliche Bedeutung beigemessen werden für die Gestaltung der neuen den neuzeitlichen Volksbedürfnissen anzupassenden Raumordnung, wo immer man Wert darauf legt, auf bewährtem sicherem Grund aufbauend organisch weiter zu gestalten und die in den völkischen wie heimatlichen Überlieferungen wurzelnden Kraftquellen nicht zu verschütten, diese vielmehr nach bestem Vermögen behutsam neu zu fassen und klar zu erhalten.

Der Berichterstatter hat selbst zehn Jahre lang an der Ausarbeitung eines Generalsiedelungsplanes mit seinen Nutz-Flächenaufteilungen, Sicherung von Grüngürtelanlagen, Verkehrsbändern, Wegenetzerweiterungen usw. für den damals zweitgrössten in starker industrieller Entwicklung begriffenen Landkreis Deutschlands als dessen Syndikus leitend mitgewirkt. Er weiss daher sehr wohl, wie schwierig es ist, mit Umsicht und Weitblick den rechtmässigen Ansprüchen auf Schutz der eingesessenen Bevölkerung und ihrer herkömmlichen Lebenskultur gleicherweise gerecht zu werden wie den civilisatorischen Erfordernissen unserer fortschreitenden Technik und der durch sie heraufgeführten Entwicklung, und dass praktisch eine intime Kenntnis von Land und Leuten, ihrer wirtschaftlichen wie familiären Grundlagen und Bindungen, also ein vielseitiges Verständnis für die ortsgeschichtlichen Gegebenheiten vonnöten ist, um das blutwarme Leben wirksam zu verteidigen gegen ungewollte Zerschneidungen und Störungen durch gigantomechanisch übersteigerte Grosszügigkeiten und Einseitigkeiten kalter Verstandesberechnungen und ach so verführerischer Kartenentwürfe ortsfremder Planer. Wenn nun zur Stärkung und Wahrung der bedrohten heimatlichen Belange gerade den Neugestaltern der landschaftlichen Raumordnung eine Nutzbarmachung der hier erörterten Wiedererkenntnisse anempfohlen wird, {99} so gilt es vor allem, die dazu Geneigten eindrücklich davon zu überzeugen, dass eine Erprobung der sonderlich mit dem Grundschema der Gottesberg-Sonnenort-Ortung gebotenen Grundsätze nicht nur gelegentlich hier und da interessante Hinweise und belebende Impulse für die Heimatkunde bietet, sondern regelmässig zu zwar neuartig begründeten, aber wissenschaftlich zuverlässigen Ergebnissen führt, welche auch heute noch gewichtige Grundzüge der bisherigen Landesstruktur klar erkennen lassen.

Dass dem so ist, geht daraus hervor, dass sich die Allgemeingültigkeit der hier vertretenen Grundsätze bisher noch allenthalben bestätigt hat, wenn für das fragliche Gebiet die zu einer zuverlässigen Untersuchung

erforderlichen Unterlagen

verfügbar gemacht werden konnten, nämlich:

1. eine tunlichst mit Gitternetz versehene amtliche Landkarte, aus der die genaue Nordsüdachse klar ersichtlich sein muss. – Karten im Massstabe von 1:50000 (2 cm = 1 km) sind am ergiebigsten, weil sie zugleich hinreichend genau und weiträumig genug sind, um Richtungsbezugspunkte in grösserer Zahl auf einem Blatt zuverlässig messbar darzubieten.

2. Klare Signierung der notorisch alten Kultstätten (Kirchen, Kapellen, Kreuze) und Grenzmarken sowie sonstiger durch geschichtliche oder sagenhafte Orts-Überlieferung beachtlicher Punkte, die am besten durch Umkreisen in Rot kenntlich zu machen sind. Durch Hinzufügen einer Ziffer können zugehörige Bemerkungen über die Ortsbedeutung wie charakteristische Namen und insbesondere christliche Patrone und Jahresfesttage, auf einer anzuhängenden Liste leicht und übersichtlich dargeboten werden.

Dass die Ergebnisse einer auf derartigen Unterlagen beruhenden Kartenuntersuchung einer Nachprüfung, Ergänzung und Untermauerung durch die ortsbewanderte und geschichtskundige Heimatforschung bedürfen, um die massgerechten Richtungsbezichungen der betroffenen Örtlichkeiten im Einzelnen sinnvoll zu erklären und so vollreife Früchte am Baume wissenschaftlicher Erkenntnis zu zeitigen, ist nicht nur für den Skeptiker selbstverständlich. Aber erfahrungsgemäss ist das Zusammenstimmen der sich ergebenden regelrechten Ortungsbezüge zumeist von vorneherein derart, dass der offenbare Einklang von Winkel, Mass und Zahl auch nach den Grundsätzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung die Annahme eines – dann göttlichen – Zufalles ausschliesst.

Die Kartenuntersuchungen haben neuerdings an Sicherheit wesentlich gewonnen durch die aus der Durchforschung der Massverhältnisse der Steinkreise bei Odry erlangte Erkenntnis, dass die ursprünglichen, grundlegenden Ortungen sich vielfach in Parallelen nach bestimmtem Mass-rhythmus zueinander angeordnet erweisen.

Die Beobachtung, dass die vierte der 96°-Parallelen in der Odry-Anlage (vgl. Abb. 5) vom Steinkreiszentruin VIII zum Zentrum XI {100} in der Mitte verlauft zwischen denen vom Zentrum IV zur Hügelhöhe 3 und vom Zentrum III zur Höhe 4 und dass die letzteren beiden mit ihren Verlängerungen überdies den Steinkreis XI – mit dem Durchmesser von 28 m – tangieren, veranlasste mich, die in folgendem Kartenauszug wiedergegebenen 9 „Sonnenjahrlinien”, die ich einige Wochen vorher am Niederrhein erkundet hatte, auf ihre Nordsüd-abstände nachzuprüfen. Es ergaben sich die im Kartenbilde vermerkten aus der Karte 1:50000 millimeter-genau abgelesenen Masszahlen von eindeutigen 700-m-vielfachen!

Karte von Kirchen um Kleve und ihren geometrischen Verhältnissen

Abb. 7. 17 christliche Kultstätten und der Stoppelberg im Reichswald auf 9 klaren Sonnenjahrlinien in genauen 700-m-Nordsüd-abständen.

Gleicherweise zeigte sich eine vollkommene Übereinstimmung zwischen den Entfernungsmassen der Landschaftsortung und den in den Steinkreisen figurierten Massen für den Winkel 10,5°, auf den übrigens nach fachwissenschaftlicher Feststellung auch die Achse der bekannten Steinreihen von Callanish in Schottland ausgerichtet ist. In Odry ergab die Untersuchung diesen Winkel zweimal: erstlich vom Steinkreiszentrum V zur Hügelhöhe 10 und zum anderen vom Steinkreiszentrum VIII zum Zentrum XII: jedesmal in einer Länge von 72 m und dazu die beiden Parallelen auch in einem Ostwest-abstande vom genau 72 Meter! Die ebenso vorher in der westdeutschen Karte um Kleve festgelegten Verbindungslinien der Kirchen Warbeyen–Bedburg und Dornick–Keppelen, beide auf 10,5°, ergaben gleichfalls einen Ostwest-abstand von 14,4 cm = 7,2 km!

Der Leiter des zuständigen Katasteramtes in Kleve, Vermessungsrat Rensing, bemerkt dazu in den „Allgemeinen Vermessungs-Nachrichten” (1937 Seite 394):

„Was die Nachprüfung der Sonnenjahrlinien, Winkel und Entfernungen, die Dr. Heinsch um Kleve ermittelt hat, betrifft, so {101} kann ich nur deren Richtigkeit bestätigen. Ich war erstaunt: sogar die Nachrechnung aus Koordinaten ergab deren Richtigkeit, wenn auch nicht völlig mathematisch genau, so doch überraschend gut, wenn man bedenkt, dass die Linien (84° und 96°) nicht durch die heutigen Kirchtürme festliegen, sondern durch die alten vorchristlichen germanischen Kultplätze, auf denen später die Kirchen (N.B.: um den Altar!) erbaut wurden. Hierbei möchte ich noch ausdrücklich hervorheben, dass es sich – abgesehen von den Bergen und auffallenden Geländepunkten – bei den angeführten Kirchen um uralte niederrheinische Stätten handelt, die zu der ersten Römerzeit schon Bedeutung hatten.”

Namentlich den 700-m-Abstand bei den Sonnenjahrlinien, auf die sich die Darlegungen hier in der Hauptsache beschränken müssen, habe ich inzwischen vielfach bestätigt gefunden: nicht nur in Deutschland, wo das Beispiel der „Alten Raumordnung um München” – erkundet auf Grund der ersten Karte neuzeitlicher Landvermessung im Massstabe 1:50000 aus dem Jahre 1812 – besonders eindrücklich ist. Wie die der Kongressleitung unterbreitete Kartenpause ausweist, finden sich dort in einem Gebiete von 25:35 km Ausdehnung insgesamt 63 alte Kultplätze in regelrechter Zueinanderordnung. Neben sechs besonders beachtlichen Triangulationen auf 30° bezw. 60°, zehn Ortungen auf 66°, elf solchen auf 49,5° und sieben auf 10,5° treten allein 30 Sonnenjahrlinien auf 84° bezw. 96° in Erscheinung, von denen verschiedene auch regelrechte Nordsüd-abstände haben von 10 mal, 9 mal, 8 mal und 6 mal 700 m. Dazu liegen von dem ursprünglichen Gottesberge, dem Altarplatz der heutigen Marienkirche in Pasing, von dem ausgehend 7 Richtungsbezüge winkelrecht belegt sind, auf 96° die Kirchen von Englschalking 14 km, die in Poing 27 km und auf 84° St. Peter in München ebenso genau mit dem Altarpunkt 9 km entfernt: eine sicher bemerkenswerte Bestätigung auch der urgründlichen Bedeutung des Metermasses.

Um die Gültigkeit der Thesen auch für Frankreich klar und ausser Zweifel zu stellen, dienen die vier amtlichen Kartenblätter 1:50.000 der Umgebung der rühmlich bekannten Kathedrale zu Chartres, welche – auch St. Marien gewidmet – auf einer uralten Kultstätte errichtet ist. Die einstige Gottesbergqualität derselben wird durch verschiedene regelrechte Ortungsbezüge zu Kirchen in der näheren Umgebung bestätigt. Unter anderen liegt der zugehörige Sonnenort auf 84° genau 6,5 km entfernt: christlich signiert durch den Kirchplatz in Nogent le PayeNogent-le-Phaye. Auf dem Schnittpunkte der 59°-Linie (3:5) von der Kathedrale mit der 10,5-Linie von Nogant le Paye Nogent-le-Phaye liegt die Kirche zu Gasville. Von dieser weist die 96°-Linie zur Kirche Levainville; und 16,8 cm = 8,4 km nördlich verläuft parallel die Verbindung der Kirchen Yermenonville und Sonchamp. Südwestlich von Sonchamp (auf 25° genau 7,5 km entfernt) liegt die Kirche Ablis mit mehrfacher Regelortung: so auf 84° zur Kirche Gallardon (und Kapelle bei Bercheres); und 11,2 cm = 5,6 km südlich verläuft die Verbindungslinie der Kirchen Umpeau und Paray-Douaville parallel {102} wie genau 3 km weiter südlich die der Kirchen Roinville und Annay.

Genau 8 km westlich von Roinville liegt der Kirchplatz Houville der – als Spitze im Süden – mit den klar ostwest zueinander ausgerichteten Kirchplätzen Chartainvilliers und Ecrosnes ein gleichseitiges Dreieck bildet von 3 mal 13 km Seitenlange. Dies ist nur ein anschaulich klarer Auszug aus der Karte Chartres S.E. (vgl. Abb. 8).

Karte von Kirchen um Chartres und ihren geometrischen Verhältnissen

Abb. 8. Beispiel regelrechter Ortung in Frankreich ausgehend von der Kathedrale in Chartres: 9 Sonnenjahrlinien mit beachtlichen Nordsüd-abständen und 13-km-Triangel.

Auf 10,5° nordwestlich von der Kathedrale – 6,8 km entfernt – liegt die Kirche Poisvilliers mit 96°-Ortung zur Kirche St. Arnoult des Bois und 11,2 cm = 5,6 km nördlich verläuft parallel die genau 11 km lange Verbindung der Kirchen Gâtelles und Challet, wie 4,2 cm = 2,1 km südlich eine dritte Parallele von der Kirche Landelles zu einem durch mehrfache Regelbezüge ausgezeichneten Sternpunkt im Bois Bailleau.

Südwestlich von Chartres weist sich Notre Dame les Chatelliers durch siebenfache Regelortung als weiteres Gottesbergzentrum aus. Der zugehörige Sonnenort auf 84° im Osten ist der Kirchplatz von Ermenonville-la-Grande. Unter mehreren Parallelen zeigt 2) die von der Kapelle Formeste (auf 60° zu Notre Dame) zur Kirche Pont-Tranche-Fétu regelrechten 7-km-Nordsüd-abstand, welchen 3) die Kirchenverbindung Bailleau le Pin–Mignieres in 3 + 4 km unterteilt, während 4) die der Kirchen Méréglise–Vitra-en-Beauce 6,5 km südlicher liegt und 5) Blandainville–Luplanté (mit NS-ab{103}stand von 4,4 km) sich durch mehrfache Ortungsbezüge (wie 30° nach Mignieres und 66° nach Ermenonville) als regelrecht ausweist.

Insgesamt hat diese ausschliesslich auf die Kartendarstellung angewiesene Untersuchung wenigstens 36 nachprüfungswürdige Ortungsbezüge von Kirchen und Kapellen allein auf 84° und 96° ergeben: in einem 25-km-Umkreise um die Kathedrale von Chartres.

In dem Bestreben, den Umfang des Geltungsbereiches der alten Raumordnung weiter zu erkunden, wurde neuerdings eine entsprechende Stichprobe in Palästina gemacht, wozu die letzten im Handel erhältlichen Kartenblätter 59 (Nablus) und 60 (Lubban) der auf Grund der „Palestine Exploration Fund”-Karte im Weltkriege hergestellten deutschen Palästinakarte 1:50.000 eine glückliche Handhabe boten.

Die Untersuchung ging aus von dem durch ein Triangulationszeichen kenntlichen Gipfel des biblischen Berges Garizim bei Sichem (Nablus). Ausser Regelortungen zu nahe gelegenen Moscheen auf 59° und 66° sind vor allem bemerkenswert die Richtungsbezüge auf 45° (der Diagonale des Quadrates), welche von diesem – schon vor Abrahams Einwanderung – überragendem Kultzentrum des Kanaaniter-Landes sowohl nach NW wie SW in ca 8,5 km Entfernung zu bedeutsamen, noch heute mit Moscheen besetzten Kultpunkten führen: I. Schech Ibrahim el Adham in NW stellt in Verbindung mit der 8 mal 700 m entfernten Moschee Kubebet ed Dahr und dem noch weitere 7 km nördlich gelegenen Kasr el Fuhes die Nordsüd-achse der das Gebiet des Kartenblattes 59 beherrschenden kultischen Massordnung dar; während II. Alim el Hada im SW in Verbindung mit Schech Katrawani (17,8 km südlich) die entsprechende Nordsüd-achse des – der Kongressleitung vorliegenden – Kartenbildes 60 (Lubban) bildet, auf das sich der gebotenen Kürze wegen die auszugsweise und summarische Wiedergabe des weiteren Ergebnisses der Kartenuntersuchung notgedrungen beschränken muss:

In diesem zwischen Sichem und Jerusalem liegenden Gebietsausschnitt von 24 km im Geviert zeigen sich nach Winkel, Mass und Zahl die gleichen Raumordnungsgrundsätze massgebend wie sie für den nordeuropäischen Raum als von jeher umfassend einheitlich geltend erkundet wurden:

A. Vornehmlich die genannten Kultorte erweisen sich als alte Zentren durch 1. massgerechte Richtungsbezüge auf den Diagonalen des Doppelquadrates mit beachtlichen Kathetenmasslängen 42:84 mm, 52,5: 105 mm und zweimal 33:66 mm;

2. Triangulationen auf 30° und 60° sieben mal; sowie

3. Achtstrahlortung auf 90° und 45° ebenfalls sieben mal; und auch diese mehrfach mit offenbar regelrechten Entfernungsmassen.

B. Sonnenjahrlinien liessen sich in diesem Gebiete neun eindeutig klar ermessen: davon 1. vier auf 84° in regelrechten Nordsüd-abständen von 8,4 km, 1,6 km und 5,6 km; sowie 2. vier auf 96° mit Nordsüd-abständen von 8 km, 4 km und 2,4 km.

C. Jedes mal in Verbindung mit Sonnenjahrlinien zeigten sich drei {104} Richtungsbezüge auf 10,5° mit Längenmassen von 16 km, 11 km und 15,75 km, und zwei von ihnen in einem Ostwestabstande von genau 4 mal 700 m!

D. Dieser 700-m-Rhythmus tritt in ganz besonders überraschender Eindeutigkeit bei den neun mal als Verbindungslinien von Kultorten ermittelten 49,5°-Schrägen mit dem Katheten-massverhältnis 6:7 zu Tage: 1. Fünf von ihnen verlaufen von NO nach SW mit Ostwest-abständen von zweimal 126 mm und zweimal 125 mm.

2. Vier verlaufen (spiegelbildlich zu den anderen) von NW nach SO mit Ostwest-abständen von zweimal 105 mm und einmal 140 mm.

3. Ihrer fünf zeigen zudem auch in ihren Entfernungsmassen selbst klare 700-m-Multipeln.

Diese 49,5°-Schrägen sind in Nordeuropa wie die Sonnenjahrlinien hundertfach der Landschaft eingeprägt, und zwar regelmässig im Anschluss an diese. So treten sie z.B. am Niederrhein bei Kleve 10 mal in Erscheinung: ausnahmslos in Verbindung mit den im Bilde wiedergegebenen 17 auf alten Sonnenjahrlinien liegenden christlichen Kultstätten; und auch in der Umgebung von Chartres finden sie sich nicht selten in solch regelrechter Zueinanderordnung.

In den Steinkreisen bei Odry habe ich diesen sakralen Winkel bisher nur einmal figuriert gesehen: von dem Zentrum des östlichsten Steinkreises XI südwestlich verlaufend genau durch die Mitte der südlichen Seite des centralen Doppelquadrates 42:84 (dem Zentrum also eines 84-m-Quadrates) und weiter hinführend zur Hügelhöhe 17, welche Mittelpunkt einer Zwölfstrahl-ortung (auf 30° und 60°) ist.

Um ein rechtes Verständnis für seine fundamentale sakrale Bedeutung zu begründen, ist aber vor allem auf den Stonehenge of Salisbury hinzuweisen mit seiner auf 49,5° NO–SW ausgerichteten Bauwerks-achse, zumal er Ausgangspunkt der hier entwickelten Vorzeiterkenntnisse wie neuartigen Landschaftskunde ist und diesen von Anbeginn eine sichere Grundlage gab.

Als um die Jahrhundertwende der englische Astrophysiker Lockyer diesen „steinzeitlichen Sonnentempel” auf Orientation zum Sonnenaufgang der Sommersonnenwende untersuchte, wurde er von dem General-Direktor der Ordnance Survey in Southampton, Colonel Johnston, darauf aufmerksam gemacht, dass in der Richtung der Steinkreisachse und gleichlaufenden Prozessionsstrasse auf 49,5° sowohl nach NO wie SW in gerader Linie noch drei andere notorisch alte Kultplätze – Castle Ditches, Grovely Castle und Sidbury Hill – gelegen seien, und man fand deren Ausrichtung auf 33,4 km Entfernung so erstaunlich genau, dass man die eigene örtliche Aufmessung danach verbesserte. Zudem wurde damals auch schon – veranlasst durch ein gleichseitiges Dreieck von 9500 m Seitenlange – auf die 10,5° zu Old Sarum, Salisbury, Clearbury-Ring sowie weitere beachtliche Entfernungsmasse von 3200 m und 8400 m hingedeutet (vgl. Abb. 9).

Es ist das Verdienst des später im Weltkriege gefallenen Vermes{105}sungsingenieurs Albrecht, noch 1914/15 in der Zeitschrift „Das Weltall” mit einer Abhandlung über „Stonehenge” auf diese merkwürdigen Feststellungen aufmerksam gemacht und damit dem 1920 aus russischer Gefangenschaft heimkehrenden jetzigen Pater Leugering die Anregung gegeben zu haben, zunächst in seiner westfählischen Heimat nach entsprechenden Ortungen – im Sinne der sog. „Kulturkreis-theorie” – erfolgreich zu forschen.

Ortung um Stonehenge: Linien auf 10,5 Grad und 49,5 Grad

Abb. 9. Skizze der Lockyer’schen Winkel- und Mass- feststellungen um Stonehenge of Salisbury
nach Albrecht in „Das Weltall” Berlin 1914/15.

Eine zufällig von einer früheren Bereisung der Gegend in meinem Besitz befindliche „Half-Inch-Karte” mit klarem Gitternetz ermöglichte mir schliesslich, die aus umfassenden Untersuchungen in den verschiedensten deutschen Landschaftsgebieten erkundeten Grundsätze der Gottesberg-Sonnenort-Ortung auch für England gemein{106}gültig klarzulegen. In der Umgebung von Stonehenge und Salisbury ergaben sich z.B. in organischem Zusammenhange miteinander allein wenigstens 16 nachprüfungswürdige Sonnenjahrlinien. Namentlich zeigten sich zu den alten Kultplätzen auf der durch den Stonehenge verlaufenden 49,5°-Schrägen die ihnen als mutmasslichen Sonnenorten zugehörigen Gottesbergpunkte regelrecht mit 6° Abweichung im Westen: 1. zu Castle Diches die Kirchplätze a. Bourton und b. Gillingham; 2. zu Sidbury Hill die Kapelle Fittleton sowie zum Stonehenge-Zentrum selbst a) ScreatchburyScratchbury Hill und b) Codford Castle. Die letztere 96°-Verbindungslinie läuft überdies nach Osten weiter c) zum Kirchplatz in Quarley, während die 84°-Linie nach dem Lageplan in Stevens „Stonehenge today & yesterday” (London 1927, S. 31) d) vom Steinkreismittelpunkt zum Gipfel des östlich gelegenen Rundhügels führt.

Die Kathedrale von Salisbury erweist sich allerdings nicht mit der hinreichenden Genauigkeit – Albrechts Darstellung entsprechend – auf 10,5° zum Stonehenge gelegen, wohl aber zu Old Sarum. Ihr Standort ist der eines mutmasslich alten Sonnenortes auf 96° östlich von Chiselbury Camp; und von der genau südlich zu diesem Gottesberg-punkt angeordneten Kapelle zu Bower Chalke führt eine 96°-Parallele auch nach Clearbury Ring (vgl. Abb. 10).

Linien zwischen Kirchen und archäologischen Stellen um Stonehenge

Abb. 10. Prüfenswerte Sonnenjahrlinien im Anschluss an Lockyer’s 49,5°-Achse
nach der amtlichen Half-Inch-Karte Southampten. Southampton.

{107} Das Bedeutsamste an den hier nur mit einer verhältnismässig kleinen Reihe eindrücklicher Beispiele belegten Grundsätzen vorzeitlicher Kultgeographie ist ihre Allgemeingültigkeit und fortdauernde Geltung derart, dass jeder sich durch eine – nicht einmal schwierige – wissenschaftliche Untersuchung in der ihm bekannten Landschaft selbst davon überzeugen und der Berichterstatter sich unbedenklich erbieten kann, zu der vollgültigen Beweisführung notfalls mitzuwirken, wenn ihm die den vorbezeichneten Voraussetzungen entsprechenden Kartenunterlagen dazu unterbreitet werden.

Besonders erwünscht wäre es zur weiteren Erkundung des räumlichen Geltungsbereiches dieser gigantischen Hieroglyphik, wenn dazu berufene Geographen nicht nur in den europäischen Ländern, sondern auch in Asien (China, Indien, Polynesien), Afrika und selbst Amerika die dargelegten Grundsätze auf ihre Stichhaltigkeit hinsichtlich einer – nach der urgründlichen Übereinstimmung ältester Kult-bauten und -einrichtungen auch dort zu vermutenden alten Land-vermessung und -einteilung erproben würden oder wenigstens die Unterlagen dazu verfügbar machen möchten.

Diese neuartigen Wissenschaftserkenntnisse zur Aufhellung selbst der vor- und ur-zeitlichen Heimat- und Menschheitsgeschichte bergen natürlich – namentlich im Hinblick auf die zutreffende Sinndeutung der regelrechten Richtungsbezüge und Massrhythmen noch mannigfache Probleme in sich, denen hier nicht eingehender nachgegangen werden kann. Um der natürlichen verstandesmässigen Skepsis zu begegnen, dass eine so umfassend einheitliche Raumordnung Menschen auf primitiver Kulturstufe nicht zuzutrauen wäre, sei nur noch bemerkt, dass es sich dabei gewiss nicht um „technische” Leistungen im heutigen Verstände handelt, sondern um den Ausdruck eines „absoluten Raumsinnes” sog. „magischer” Menschen, der sich überall an der – von den natursichtigen „Primitiven” unserer Zeit, noch ebenso sicher empfundenen – Nordsüdachse „orientierte”. Erst die von der wissenschaftlichen Völkerkunde wie ärztlichen Seelenforschung neuerdings begründete klare Erkenntnis der grundlegenden Wesensverschiedenheit des magisch schauenden „homo divinans” und des technisch denkenden „homo faber” ermöglicht unserem andersartigen Bewusstsein ein zutreffendes Verständnis für so überraschende Zeugnisse einer hohen Geisteskultur vorzeitlicher Menschheitsgenerationen wie die Eiszeitkunst und insbesondere die nicht mehr zu leugnende Tatsache, dass ihr Ordnungssinn unserer heimatlichen Landschaft – heute noch unverkennbar – einen kaum zerstörbar sakrosankten Wesenstempel verliehen hat.

Deshalb dürfen auch diese dem Landsschaftsgesichte allenthalben eingeprägten Grundzüge einer den „natursichtigen” Begründern naturgesetzmässig erscheinenden uralten Raumordnung nicht lediglich betrachtet werden als antiquierte Hieroglyphen einer mit rechten Mass und Winkel heute wieder aus der Landkarte ablesbaren grossartigen „Urschrift der Menschheit”. Sie möchten vielmehr vor allem wiedererkannt und gewürdigt werden als die Grundrisse einer be{108}wusst harmonikalen Volk- und Raum-gestaltung, welche mit ihren – den Menschen wie „der Gottheit wohlgefälligen” – Massverhältnissen für das natürlich gesunde menschliche Heimatgefühl heute noch ebenso ansprechend wirksam sind wie dieselben Massverhältnisse in gotischen „Gotteshäusern” und anderen alten, kosmische Rhythmen spiegelnden Sakralbauten, welche den schweigenden Betrachter immer noch irgendwie in Harmonie setzen mit dem Unendlichen, ihn seelisch beeindrucken und so „magisch” beeinflussen.

Der Berichterstatter, der aus Beruf und Neigung lebenspraktisch zu wirken gewohnt ist, möchte jedenfalls mit der Darbietung dieser Frucht eines siebenjährigen Forschungsbemühens vornehmlich den Gestaltern an der Weiterentwicklung der heimatlichen Landschafts-struktur collegialiter die Anregung und brauchbare Handhabe geben, die guten, „aus echter Wurzel” überkommenen Grundlagen einer durch Jahrtausende meist sorgsam gehegten, gesund gewachsen und so gültigen altehrwürdigen Volkraumordnung zu studieren und nach Möglichkeit zu respektieren, auf dass auch die notwendigen Neuformungen unserer Zeit sich der Landschaft wieder natürlich harmonisch einfügen nach der aller wahren Menschenkunst innewohnenden „Gerechtigkeit des Masses”.