Kurt Gerlach, „Böhmische Dörfer – geortet!“

Germanien, 1940, 475–476.

A postscript to the author’s article “Frühdeutsche Landmessungen” (“Early German land surveys”), presenting evidence for the use of the 11-km unit south of Prague.

Bohemian villages – oriented! Englische Flagge

{475}

Böhmische Dörfer – geortet!

Zu dem Aufsatz über „Frühdeutsche Landmessungen“ („Germanien“ 1940, 7) können folgende Feststellungen nachgetragen werden:

Karte: Alte Landmesserkunst in Böhmen Ein Ort Ostra bei bzw. in Dresden entzieht sich der Ausrichtung auf Prag. Seine Beziehungen weisen nach Meißen. Der Ort war Meißner Bischofsbesitz, er war verpflichtet, die Schöppen für den bischöflichen Gerichtsstuhl im benachbarten Briesnitz zu stellen und den dingpflichtigen Dörfern zu Gericht zu gebieten. „Doch steht bei dem Amte, solchen Dingstuhl gegen Ostra zu verrücken.“ (O. Trautmann: Das Ostra-Vorwerk. Dresden 1918.) Ostra liegt vom Bischofssitz und Dom in Meißen 22 Kilometer entfernt.

Ein Ort Ostrau nördlich Döbeln liegt 22 Kilometer westlich vom Bischofssitz Meißen.

Ein Schloß Ostro liegt bei Weltrus in Böhmen 22 Kilometer nördlich des Burg- und Dombezirks in Prag unter der Linie, die dann über den Georgsberg und den Matzenstein nach dem Königstein führt. Der Königstein hat freistehend in seiner Mitte eine alte St.-Georgs-Kirche. Die Kirche St. Georg auf der Prager Burg wurde 912 vom Herzog Wratislaw I. erbaut. 971 gründete Boleslaws II. Schwester Milada dabei ein Nonnenkloster des Benediktinerordens, das älteste Kloster des Landes.

Ein Ort Ostrov liegt 22 Kilometer nordöstlich der Burg Prag bei Brandeis.

Ein Ort Ostro liegt 44 Kilometer südwestlich Prag. Einen Berg Ostry findet man 44 Kilometer von Prag in westsüdwestlicher Richtung. Beide Punkte haben das Gemeinsame, daß von ersterem südöstlich, von letzterem nordwestlich in gleicher Entfernung je ein Ort Zebrak liegt, zwischen den Ostro-Punkten in der Mitte aber ein Berg Chlum gleichfalls 44 Kilometer von Prag ab.

Ein Berg Zebrak aber liegt südlich Beneschau in südöstlicher Richtung von Prag, 44 Kilometer vom Burgbezirk ab. Alle drei Zebrak-Orte (es finden sich auf den drei benachbarten Kartenblättern der amtlichen Karte im Maßstab 1:200 000 keine weiteren) sind mithin von Prag gleichweit entfernt, zudem liegen die beiden äußeren vom mitteleren Zebrak je 33 Kilometer ab. Die Winkel ihrer Verbindungsstrecken mit Prag betragen je 45 Grad.

Dieser 45-Grad-Winkel nach Westen zu wird durch die Strahlen, die von Prag aus durch die obengenannten Ostrov-, Chlum- und Ostry-Punkte streichen, in vier Winkel zu je 11¼ Grad geteilt.

Die Lage aller dieser Orte ist nicht zufällig – sie bauen sich von Prag aus über dem gleichseitigen Dreieck auf, das die Benediktinermönche um das Jahr 1000 durch die Gründung des Klosters Ostro an der Sazawamündung und die Anlage von Sedletz an der Lodenitz bei dem Einsiedler zu St. Johann schufen. Ein weiterer Einsiedler ging damals nach dem Berge Velis – eine über den Velis gezogene Linie nach Prag (Burg) würde mit der Linie nach dem westlichen Zebrak, wo eine Königsburg war (Betlarn!), einen Winkel von wiederum 11¼ Grad ergeben. Die Verlängerung der Linie Prag–Kloster Ostro trifft in 44 Kilometer Entfernung von Prag nämlich einen neuen Ort Chlum, und die Fortsetzung der Linie Sedletz–Zebrak kommt bei rund 20 Kilometer südwestlich Zebrak über einen Berg Chlum. Ein Ort Chlum liegt dann noch 44 Kilometer von Prag nach Westen.

Das tschechische „Zebrak“ bedeutet Bettler. Die Annahme ist dann wohl kaum verfehlt, daß von den Benediktinern zuerst Mönche in die Wildnis der Wälder geschickt wurden, wie der Einsiedler nach St. Johann und zum Berge Velis, und daß diese Außenposten bei ihrer Aufgabe, den Wegrichtungs- und Fernmeldedienst (durch Glockenzeichen und Feuermale) zu versehen, auf die Zuteilung von Lebensmitteln durch die Wegfahrer angewiesen waren so wie die Kirche auf dem Berg Velis von den Einwohnern des Dorfes Otrocinewes versorgt wurde.

Denn die der Landschaft mit den Zebrak-Ostro-Chlum-Namen von Prag aus eingeprägten Winkelgrößen waren keine willkürlichen. Unsere Kompaßtellung von 360 Grad hat eine Vorläuferin in der 32teiligen Kompaßrose, die auch heute noch angewandt wird und den Bergbau des Mittelalters beherrschte. Ein Zweiunddreißigstel des Kreises zu 360 Grad sind 11¼ Grad.

In der Entfernung von 44 Kilometer werden auf dem Umkreis Sekanten von 33 Kilometer Länge abgeschnitten, wenn man im Mittelpunkt je um vier Teilstriche der 32teiligen Windrose weiter visiert. Es brauchte nur einmal genau {476} mit der Schnur gemessen zu werden – alle weiteren Maße ließen sich durch Anwinkeln finden. Die Tatsache, daß sich unser Wetter seit der Bronzezeit unsichtiger und niederschlagsreicher gestaltet (Pollen-analyse), würde die Annahme rechtfertigen, daß man früher müheloser und leichter, ohne optische Hilfsmittel, sich auf weite Entfernungen verständigen konnte.

Jedenfalls hat der „Schematismus in den fränkischen Siedlungsanlagen und deren Namen“, auf den neuerdings W. Kaspers in der „Zeitschrift für Namenforschung“ XIV, S. 129–141, hinweist, auf böhmischem, Lausitzer und meißnischem Boden eine Entsprechung. Aus der verwirrenden und scheinbar regellosen Fülle böhmischer Dörfer lassen sich nach vorstehendem (und ich habe mich gehütet, alle Anklänge zu nennen) einleuchtende Beweise einer zweckdienlichen Ortung herausfinden, deren Bergleute im geistlichen Auftrag oder Fürstendienst, Einsiedler als Wegewächter, Wegebauer und Kulturpioniere bedurften, um die Einöden und Markwälder zu überbrücken und an die Wohngefilde anzufchließen.

Kurt Gerlach