O.S. Reuter, Der Himmel über den Germanen, Teil 4

 

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IV. Sternhimmel und Weltbild. Die Hochseeschiffahrt

Zur Erde bete ich und zum Oberhimmel, –
Zu des Himmels Macht und seinem Hochbau.
Angelsächsisch [23].

Oddi Helgason (siehe Abschnitt II, 10), im Ausgang des 10. Jahrhunderts, wurde der Stern-Oddi genannt, weil er „die Sterne zu beobachten pflegte“. In den Sagas ist er nicht der einzige, der diese Tätigkeit ausübt; fast gleichzeitig mit ihm und ebenfalls in Nordisland lebte Einar Eyjolfsson, der Bruder Gudmunds des Mächtigen, dem die Beobachtung und gute Kenntnis des gestirnten Himmels nachgerühmt wird. In Schweden hatte der Bauer Raudulf einen ähnlichen Ruf und seine Söhne hatten ihre Sternkenntnis von ihm.

Erhalten ist von alledem nichts. Mit um so größerer Sorgfalt müssen wir also auch den geringsten Spuren der alten Sternkunde, die sich auf die Tätigkeit der genannten nicht beschränkt haben wird, nachgehen. Solcher Spuren sind mehr als man zu hoffen wagte, und einige sind doch der Art, daß sie uns eine Ahnung des Verlorenen vermitteln.

1. Vom Wesen der Gestirne.

Soweit die Quellen reichen, ist in geschichtlicher Zeit die germanische Auffassung der Gestirne der babylonischen entgegengesetzt. Babylon erblickte in den Gestirnen Götter, wie noch Augustin Engel in ihnen sah. Die nordgermanische Schöpfungssage, die sehr altertümlich und wahrscheinlich aus urgermanischer Wurzel entsprossen ist, stellt die Götter als Schöpfungsmächte über den Himmel und die Sternwelt. Aus dem Schädeldach des Urriesen, dessen Leib der Stoff des Weltalls wird, bauen die Götter den Himmel. Die von der feindseligen südlichen Feuerwelt ausgeschleuderten lose fahrenden Glutspritzer werden von ihnen als Sterne in ihre heutigen Stätten und Bahnen gesetzt.

Die kurze Äußerung Cäsars [24], daß die Germanen den Sonnen- und den Mondgott (neben dem Gotte des Feuers) verehrt hätten, wird bald danach von Tacitus, dem genaueren Kenner Germaniens, in seine Darstellung des germanischen Glaubens nicht aufgenommen; übereinstimmend hiermit ist in den christlichen Bekehrungsnachrichten, selbst in dem lehrreichen Briefe des angelsächsischen Bischofs Daniel von Winchester an Bonifatius, von einem Gestirndienst der germanischen Völker niemals die Rede. Die Verehrung gilt „des Himmels Macht und Hochbau“, das ist dem Werke der Götter selbst.

Die Feurigkeit der Gestirne ist ursprünglich, ihr Licht ein eigenes. Diese germanische und uns heute als selbstverständlich erscheinende Ansicht vom eigenen Licht der Sterne vertrat auch der Westgotenkönig Sisebut in seinem Lehrgedicht aus 614 zu Toledo [25]; aber das abendländische Mittelalter teilte diese Ansicht in seinen bedeutendsten Vertretern nicht. Der spanische Bischof Isidor von Sevilla im 7. Jahrhundert, in Deutschland Rabanus {609} Maurus im 9. Jahrhundert, beide die angesehensten Kirchenlehrer ihrer Zeit, lehrten mit Plinius dem Älteren, daß die Sterne ihr Licht von der Sonne erhielten. Im 13. Jahrhundert noch drang diese verkehrte Lehre nach Island.

2. Der Leitstern.

Vorbemerkung. Der Drehpunkt der Himmelskreisung liegt nicht immer bei den gleichen Sternen, sondern zieht, infolge der Pendelbewegung der Erdachse um die Achse der Sonnenbahn, einen Kreis, der ihn erst in rund 26000 Jahren zu denselben Sternen zurückbringt. In der Jüngeren Steinzeit (−3000) lag er bei α des Drachen, zu des Arminius Zeiten schon in Nähe des Sterns, dem er +800 bis auf eine scheinbare Mondbreite nahe rückte, seit 1400 in der Nachbarschaft unseres heutigen Polarsterns.

Die germanische Bezeichnung „Leitstern“ bestellt einen der Himmelsnabe nahestehenden gut unterscheidbaren Stern zum sichtbaren Richtweiser an Stelle der selbst unsichtbaren Nabe. Das Mittelalter kannte als „Schifferstern“ nur den Hellen Stern am Schwanzende des Kleinen Bären, unseren heutigen Nord- oder Polarstern, der um 800 noch rund 7 Grad, d. s. 14 scheinbare Monddurchmesser vom Drehpunkt abstand.

In einer mittelalterlichen isländischen Handschrift, die mehrfach Einheimisches in die mittelalterliche Darstellung mengt, werden für Island zwei Leitsterne genannt, ein Heller (d. i. wohl unser Polarstern) und ein „nicht Heller“, der nur einen kleinen Kreis beschreibt. Infolge der 26000-jährigen Polverschiebung lag der Drehpunkt um 800 dicht an dem Sterne „32 Camelopárdalis Hevelii“ [26], der zwar nur von 4. bis 5. Größe, doch in der Mitte eines weiten, scheinbar sternleeren Feldes leicht aufzufinden ist. In der Tat haben denselben Stern zu gleicher Zeit auch die Chinesen als Tiändschu (= „Himmelspunkt“) benutzt [27]. Da kein anderer Stern als der genannte 32 Cam., der Stern am Kopfe der „Giraffe“, für die frühgermanische Zeit in Betracht kommt, dürfen wir in jenem „nicht Hellen“ zweiten Leitstern des isländischen Berichts den Leitstern zumindest der nordischen Wikinger erblicken, dem die Hochseeschiffahrt (siehe unten) jenes Zeitalters ihre außerordentlichen Leistungen verdankt. (Vergl. die Sternkarte.)

Die oben (siehe II, 4) berichtete Beobachtung des „Leitsterns“ in einem fremden Lande, aber in isländisch-einheimischer Weise aus der Rückenlage, meinte die Polhöhe, um sie mit der heimischen in vergleich zu setzen. Noch um 1500 beobachten nach einem Berichte des Olaus Magnus von Uppsala die nordischen Bauern den Himmelspol (polus arcticus), also nicht den Leitstern, auf „wunderbare Weise“. Über die Bezeichnungen Nagel-, Naben- d. i. Achsenstern u. a. siehe unten. Die Unterscheidung zwischen Himmelsnabe und Leitstern tritt überall, bedeutsam gerade auch in der Verklärung des Himmels, durch die Göttersage ins Licht.

3. Die Verklärung des Himmels.

Der Nordblick empor zur Himmelsnabe als dem scheinbaren Drehpunkt des Weltalls hat in der germanischen Götter- und Himmelssage dichterische {610} und Glaubensbilder von gewaltiger Größe und Erhabenheit hervorgerufen. Wir nennen nur einige:

1. Die Weltsäule: Irminsul. Die Altsachsen verehrten eine hölzerne Säule von nicht geringer Größe unter freiem Himmel aufgerichtet „gleichsam als Tragsäule des Weltalls“. Das Wort „gleichsam“ in diesem Bericht des Rudolf von Fulda [28] bewahrt die Sachsen vor dem Vorwurf des Fetischismus und sichert der Vorstellung die Weltallsgröße. Jene Säule war nicht selbst Träger des Weltalls, sondern nur ihr Sinnbild. Der Name Irminsul galt also ursprünglich dem Urbild, nicht dem Abbilde der scheinbaren Weltsäule. Das von Karl dem Franken zerstörte Volksheiligtum ist nicht das einzige dieser Art gewesen. Das Urbild war nicht zerstörbar.

2. In der nordischen Göttersage der Edda ist an die Stelle der Säule unter anderen das Bild des Weltbaums getreten. Er wird als Weltesche bezeichnet, doch immergrün über dem Himmelssee der Urd, ein Laubbaum, der alle Welten, selbst das Dach Walhalls, der gestirnten Himmelshalle, durchragt. Adler und Habicht, das sind Sonne und Mond, horsten in seinem Gezweige. Er kann erzittern, aber bleibt stehen im kommenden Weltbrand und bewahrt, selber unsterblich, das Leben der neuen vollendeten Schöpfung.

3. Zugleich ist die Weltsäule als ein Schwert gesehen, auf dessen Spitze das Weltall kreist. Die Götter haben es in den geifernden Rachen des gefesselten Urwolfs (Fenrir) der Finsternis so gestellt, daß es von der Erde bis zum Himmel ragt. Man nennt dies die „Gaumensperre des Wolfes“ (siehe unten das Sternbild), der, gefesselt, „immerdar zum Sitze der Götter schaut“. Die Weltachse ist das Sinnbild der Götterordnung.

4. In Verbindung mit der Himmelskreisung, die als rechtsdrehender oberer Mühlstein der alten Handmühle gesehen wird, gilt die Weltsäule als senkrechte Achse des unteren Mühlsteins, der Himmelsmühle, übereinstimmend bei den Alt-Römern, den Hellenen und Indern, in einem schon indogermanischen Bilde.

5. In uraltem Bilde auch gleicht das kreisende All einer beständig rechtsdrehenden Spindel in den Händen der Himmelsmutter. Die Jahresumdrehung der Spindel ist, wie die der Mühle, in vielen germanischen Bräuchen bekannt. Der zum (senkrechten) Spindelstab gehörende Spinnrocken findet sich im Norden als „Friggs Rocken“ verstirnt (siehe den nächsten Abschnitt).

Diese und viele andere Bilder, wie das vom Himmelsberg, von der „Haselstange der Erde“ usf. meinen nicht einen sichtbaren Stern, sondern die unsichtbare „Mitte des Mondsaals“, von der nach dem Eddaliede die Nornen die Seile des Geschickes werfen, nicht den Leitstern, sondern die Himmelsnabe selbst.

4. Sterne und Sternbilder.

Das Wort „Stern“, Wurzelhaft allen indogermanischen Sprachen gemeinsam, scheint ursprünglich die „Ausgestreuten“ (vgl. lat. sternere = streuen) bedeutet zu haben.

{611} Die überlieferten Sternnamen betreffen nicht nur einzelne Sterne; wie alle Völker der Erde haben auch die Germanen die verwirrende Fülle der anscheinend wahllos verstreuten (siehe oben IV, 1: die Schöpfungssage) und doch in regelmäßigen Bahnen laufenden Sterne zu Bildern zusammengefaßt. (Vgl. den „Aufriß der Sternbilder“.)

1. Der Leitstern (32 Cam. Hev. siehe oben IV, 3), gemeingermanisch; im Angelsächsischen Tir (= altnordisch Tyr), der Name des alten Himmelsgottes (altsächsisch Saxnot).

2. Der Frauenwagen (Kleiner Himmelswagen), altisländisch; wie der Große Himmelswagen auf Wodan wohl auf die Himmelsmutter bezogen; ostschwedisch Nordwagen.

3. Wodanswagen (Großer Himmelswagen), altniederländisch; althochdeutsch, angelsächsisch, altnordisch Karls-, d. i. Wodanswagen.

4. Tagstern (Arktur), altnordisch; zur Zeitbestimmung.

5. Orendels (Aurvandils) Zehe (wahrscheinlich Nördliche Krone); altnordisch. Nach der Edda von Thor selbst als Erinnerungszeichen der Göttertat an den Himmel gesetzt.

6. Südstern (Wega); altisländisch; wahrscheinlich in der Schiffahrt gebraucht.

7. Friggs Rocken (Orionsgürtel); in Schweden, Dänemark und Norwegen alt. Althochdeutsch: Der Rechen; Die drei Mäher; Der Pflug. In Norwegen meist: Die drei Fischer. Jahres- und Nachtzeitgestirn; siehe oben III. „Sternjahr“.

8. Der [Kleine] Wolfsrachen (Hyaden); altisländisch. Unmittelbar an der scheinbaren Sonnenbahn (Ekliptik); vgl. die Sternkarte.

9. Der [Große] Wolfsrachen (Andromeda, Milchstraße, deren Zweiteilung einschließend; also das große Sternhalbrund über Pegasus zum Schwan); altisländisch. Die Öffnung des Rachens ist gegen den Himmelspol gewandt. Vgl. 15.

10. Asenkampf (Fuhrmann mit Capella); altisländisch. Auf der Milchstraße.

11. Der Fackelschwinger (Prokyon); altisländisch; nahe der Milchstraße, Vorläufer von:

12.Lokis Brand (Sirius); isländisch; am Fuße der Milchstraße.

13. Siebengestirn (Plejaden); gemeingermanisch Glucke und Abendhenne mit den sieben, auch zwölf Küchlein; vielleicht alteuropäisch. Ebergedränge (alt- und angelsächsisch) neben Glucke vielleicht älteste heidnische Bezeichnung des Jahresgestirns siehe oben III. „Sternjahr“.

14. Thiazis Augen (wahrscheinlich Castor und Pollux); nach der Edda von Thor als „größtes Merkmal seiner Werke“ an den Himmel gesetzt.

15. Irings Weg (Milchstraße); altsächsisch, angelsächsisch, althochdeutsch. Deren aus dem Wolfsrachen (siehe unter 9.) fallenden Geiferströme Wan und Wil; der „arge Wan“ als Höllenstrom und Totenweg althochdeutsch. In der Edda: Bifrost = Bebestrecke, d. i. der Totenweg; {612} Fenrir = Wanswolf, Wolf des Flusses Wan. – Die Milchstraße ist zugleich die „Götterbrücke“, die von der Erde zur Himmelshöhe, von dort abwärts zur Hel führt.

5. Verteilung und Bedeutung der Sternbilder.

Mit Ausnahme weniger Sternnamen wie Südstern (Wega) finden sich, wohl als Folge der nordischen Nachthelle des Sommers, fast alle Sternnamen auf der Winterhälfte des Himmels. Um die Wintersonnwende, also den astronomischen Jahresbeginn des Oddi Helgason und Merktag des germanischen Sonnenmondjahrs (Mütternacht), stehen fast alle Sternbilder gleichzeitig sichtbar auf einem Himmelsausschnitt, der nur den 8. Teil der gesamten Kreisung in Anspruch nimmt. Um Mitternacht des kürzesten Tages (vgl. die Sternkarte) steht „Lokis Brand“ zu jener zeit genau in seiner Südhöhe am Südfuße der Milchstraße, kaum 10 Grad, d. i. eine Handbreit, über dem Himmelsrand. Der Große Wolfsrachen und Orendels Zehe stehen sich als Herbst- und Frühjahrssternbilder gegenüber.

Von einem Zufall in der Verteilung der Sternbilder kann keine Rede sein. Sie stehen, obgleich aus weit getrennten Quellen überliefert, zu größtem Teil mit der Göttersage in Verbindung. Die Edda selbst belehrt, daß gerade die beiden alten Namen „Thiazis Augen“ und „Orendels Zehe“ nicht vom Himmel abgelesen, sondern an ihn gesetzt sind, um die Erinnerung der Menschen an die großen Schöpfungstaten der Götter wachzuhalten.

Der Kleine Wolfsrachen stand damals unmittelbar an der Sonnen- und Mondbahn und läuft mit ihr um; die Edda weiß von Wölfen aus dem Stamme des Urwolfs Fenrir, die allezeit hinter Sonne und Mond her sind. Der Große Wolfsrachen öffnet den gewaltigen Schlund unmittelbar gegen den Göttersitz, wo das Nordgestirn Tyr (angelsächsisch überliefert) „nimmerdar weicht“. Von jenem gefesselten Wolfe läßt um 950 das herrliche Eirikslied Odin sagen: „Immerdar schaut der Wolf der graue nach dem Sitz der Götter“.

Wenn der Herbst vorüber ist, in der Mitte der Wintersonnwendnacht, betritt Lokis Brand, sein Feuerschwinger voran, die strahlende Götterbrücke, die in dieser Zeit vom Südpunkt des Himmelsrandes zum Nordsitz des Himmels und von dort wieder abwärts zur Niflhel stürzt. Aber schon hat sich auf der Götterbrücke der Kampf der Asengötter entfaltet. Es ist die große Weissagung der Edda vom Endkampf der Götter- und Riesenmächte, zwischen Schöpfung und Zerstörung, deren Ausgang Balder befreit und die Schöpfung vollendet.

Die germanische Verstirnung der Göttersage, die uns übereinstimmend bei den Süd-, West- und Nordgermanen begegnet, steht im Gegensatz zu dem rein anschaulichen mythenlosen Himmelsbilde etwa der Araber oder der Chinesen. Sie hat am meisten Ähnlichkeit mit der griechischen Ausrüstung des Himmels mit sagenreichen Sternbildern, ist aber dieser, selbst in der Zerstörung, an seelischer Größe wie an dichterischer und anschaulicher Schönheit und Pracht weit überlegen.

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6. Das Weltbild.

Vom Anblick des Himmels und seiner Bewegungen als einem Gegenstände der Forschung und Nutzung ist der Ausblick zu des Himmels Hochbau als einem Gegenstände der Freude und des Glaubens zu unterscheiden, vom wissenschaftlichen das mythische Weltbild. Dieses, die Welt der Bilder und der Gedanken, gehört der schauenden und schöpferischen Seele, jenes, das Bild und der Begriff der Welt, dem Verstande an.

Das mythische Weltbild.

Nach der Jüngeren Edda, in der Snorri Sturluson zur Belehrung in der Skaldenkunst alte Schöpfungslieder getreu wiederzugeben sucht, liegt die Erde, aus riesischem Leibe, inmitten des Weltraums (Ginnungagap) fest; kreisrund, erhebt sie sich gleich einer Burg (Mittgart), nach Norden geht es niederwärts. Rings um Mittgart strömt tiefe See.

Über der Erde als dem Irmingrund wölbt sich wie ein rundes Schädeldach der Himmel, auf die vier zwergniedrigen Ecken Nord, Süd, Ost und West gestellt. Himmel und Sterne sind wie die Erde ursprünglich riesischen Stoffes; die Ordnung, das Schöpfungswerk ist göttlichen Ursprungs.

In der Mitte der Welt, d. i. der Himmelshöhe, ist Asgard, die Burg der Götter, in deren Mitte Odins Hochsitz aufgerichtet, von dem er alle Welten und Geschicke überschaut. Es ist dieselbe „Mitte des Mondsaals“, von der die Nornen das Geschick der Welt, auch das der Götter spinnen.

Aus der Erde Tiefen über den Irmingrund empor wächst durch alle Welten der Weltbaum und durchbricht die gestirnte Götterhalle mit goldenem Laube. Adler und Habicht, wohl Sonne und Mond, wohnen in seinem Gezweig.

Es ist das wirbelnde, von den Kreisbahnen der Sterne umflutete, aber unsterbliche Idafeld, in dessen Mitte Asgard thront; die Mitte des Mondsaals, die den Nordblick des Gebetes gewährt.

Das wissenschaftliche Weltbild.

Die Bruchstückhaftigkeit der Überlieferung verbietet nicht, einige Linien auch des wissenschaftlichen Weltbildes vorsichtig zu zeichnen.

Wir erkennen das Weltbild vor Koppernik: die Erde steht fest; der Himmel ist es, der sich bewegt. Dem Radkreuz und Hakenkreuz der Felsbilder entsprechen in geschichtlicher Zeit Nabe und Himmelsrad für Drehpunkt und Kreisung. Die Achse weist gegen Nord. Das „Himmelsrad“ ist die breite Bahn, auf der Sonne und Mond fahren, nördlich und südlich des Weltgleichers; im Menglödmythus [29] wohl als „Mauer des Göttergaues“ bezeichnet, die der Sonnenjüngling im Frühling durchschreitet.

In christlicher Zeit hat der Norden für den Polarkreis die rein aus der heidnischen Zeit stammende Benennung „Radnagelkreis“ (hjól-gadds-hringr). Der Nagel hält das Rad auf der Achse. Die altisländi-{614}sche, wahrscheinlich uralte Bezeichnung „Weltnagel“ betrifft gleichfalls den Nordstern (ursprünglich 32 Cam.) und reicht als „Nagelstern“ heute noch bis zu den Tschuktschen an der Beringstraße. Dem Süden sind „Nagel“ und „Nabe“ nicht geläufig; der babylonisch-griechische „Erdnabel“ fehlt dem Norden.

Am festen „Oberhimmel“ sind die Standsterne befestigt; unter ihm her, im Unterhimmel, fahren die „losen Sterne“, die Wandelsterne, trotz ihrer auffälligen Schleifenbewegung in gesetzmäßigen Bahnen. Die Sternbewegung, das Wirbelfeld, ist abhängig von der Nabe; „Stütze und Sterne“ gehören nach altnordischer Rede zusammen. Zu vergleichen sind die Seile der Nornen, gefestigt in der Mitte des Mondsaals.

In Altindien galten die Sterne durch „Windseile“ an den Polarstern geknüpft; die Drehung des Himmelsgewölbes erfolgt durch den „Sternwind“. Zur Drehung des Hakenkreuzes vgl. oben unter I, 2.

Die Bewegung der Sonne ist der erkennbaren Theorie des Stern-Oddi gemäß als gleichförmig gesehen; Winter- und Sommerhälfte der Bewegung gelten gleichlang. An die Stelle des wohlbekannten Begriffs der Tagundnachtgleiche steht im Frühling und Herbst die Bestimmung der „Mitte zwischen den Sonnwenden“. Der Begriff wird von der Bewegung des Gestirns, nicht wie bei den „Tagundnachtgleichen“ von der Erhellung des Himmels abgenommen. Die Wenden vollziehen sich unabänderlich im Winter im Nordpunkt der tiefsten Bahn (Mitte der längsten Nacht), im Sommer im Südpunkt der höchsten Bahn (Mitte des längsten Tages). Das Weltall hat gleichmittige Kreisbewegung.

Das „Himmelsrad“ wird in bezug auf die Sonne in 8 bzw. 16, in bezug auf den Mond in 27 bzw. 54 Abschnitte geteilt.

Die Tagesbahn der Sonne fällt mit ihrer Jahresbahn und den Monatsbahnen des Mondes scheinbar in den breiten Himmelsgürtel, den man nach Sonne oder Mond beliebig teilen konnte. Die babylonisch-griechische Zwölfteilung der Jahresbahn der Sonne (in jeder Nacht verdeckt die Sonne dem Südländer ein Zwölftel ihres Laufes rundum vor dem Sternhimmel) samt den Tierkreisbildern ist im germanischen Gebiet wegen der Dämmerungslänge und der Sommernachthelle unbeobachtbar gewesen. Man hat aber die 8- und 16-Teilung der Tagesbahn der Sonne genutzt und auf das Himmelsrad übertragen.

Der Mondumlauf durch die 27 Nächte teilt das Himmelsrad in 27 Sterngruppen; in altnordischem Ausdruck sind die 27 Nächte als 54 Halbtage zu zählen.

Eine Teilung in 8, 16 und 27 zeigt schon die Kultscheibe des bronzezeitlichen Himmelswagens von Trundholm aus WestschwedenTrundholm liegt in Dänemark., wo die zahlreichen Radkreuze auf den Felsbildern ähnliche Teilung zeigen. In geschichtlicher Zeit erscheint diese Teilung in einem astronomischen Bruchstück der Edda, das für die himmlische Walhall 540 Golfe und Tore mit je 800 Einheerern, die, zusammen 432000, im Ende dieses Menschenalters (verold = Welt) gegen die andringende Zerstörung eingesetzt werden sollen. Da die Verzehn- und Verhundertfachung auch sonst als germanisches Kunstmittel bezeugt ist, sind die ursprünglichen himmelskund-{615}lichen Zahlen des Himmelskreises 54 und 8; sie bilden die Sonnen- und Mondbahnteilung in dem gemeinschaftlichen Vielfachen 432000, die im gleichen Sinne Altindien angehört und schließlich auch die dem arischen Kreise entlehnten Zahlengeheimnisse der sog. „Offenbarung Johannis“ klärt. Das Sinnbild Walhalls ist himmelskundlich unterbaut.

Vergleichbare Teilung fehlt in Babylon, das die Mondbahn in 24 Abschnitte teilt, die erst über Beda im 13. Jahrhundert Island bekannt werden, als man dort von der 27-Teilung des wahren Mondumlaufs in der Zeitrechnung längst zur Zählung von 28 Nächten (zu je vier Siebenerwochen) übergegangen war.

Die im mythischen Weltbilde ausgesprochene Nordneigung der Erdwölbung (nord = nieder) erklärt das Aufsteigen des Himmelsdrehpunkts, das Wachsen der Polhöhe gegen Norden, die niedrige Lage im Süden. Von einer Kugelgestalt der Erde dagegen hören wir nichts. Gleichwohl werden die zahlreichen Himmelsbeobachtungen:

die in der Schiffsortbestimmung genutzten Breitenverschiebungen der Sonnenauf- und -untergangsrichtungen, sowie der Sonnenhöhen, die gesetzmäßige Veränderung der Polhöhe und der Sternhöhen überhaupt (Wega), die Notwendigkeit, Gestirnhöhen nicht gegen die Kimm, sondern gegen die waagrechte Augesebene, den scheinbaren Horizont zu messen und diese Bestimmung sogar gesetzlich zu machen, der Anblick der Oberläufigkeit der Sonne und in größeren Fristen auch des Mondes, die Beschleunigung und Verlangsamung der Sonnen- und Dämmerungsaufgänge in bezug auf den Himmelsrand (sicher nicht durch Oddi allein), die in der Schiffahrt als Landkennung und Kursweisung (heiti) wichtige und oft überlieferte Unterscheidung von ganzer und halber Bergsicht, die sich mit Zunahme der Entfernung verringerte, bei Annäherung wuchs,

diese und manche andere Beobachtungen werden den offenen Sinn der nordischen Seefahrer schon in vorkirchlicher Zeit zumindest an die Schwelle jener Einsicht von der wahren Gestalt der Erde geführt haben, die dem Westgoten Sisebut um 614 geläufig war.

Die Ursachen der Sonnen- und Mondverfinsterungen werden von Sisebut richtig dargelegt, wohl gotisch-griechischer Grundlage. Im germanischen Norden fehlen Nachrichten. Die Sterne haben eigenes Licht.

Als Bezugsebenen für die Bestimmung von himmelskundlichen Richtungen und Höhen haben sich gefunden:

  1. Der reine Himmelsrand (Seehorizont) mit dem Scheitelpunkt senkrecht über ihm; die waagrechte Augesebene (der scheinbare Horizont);
  2. die (gedachte) Ebene des „Himmelrades“ (Mond- und Sonnenbahn), mit der Weltsäule (Nabe) als Achse.

Sie entsprechen den beiden griechischen, heute gebräuchlichen Kreissystemen des wahren Horizontes und des Weltäquators.

{616} Vom griechischen Gradnetz fehlt jede Spur. Aber an seiner Stelle steht das Naturmaß: Der Durch- und Halbmesser der Sonne, die tägliche Mondstrecke (Spann), der Scheitelabstand der Nabe u. a. Die große Stetigkeit dieser Naturmaße jedoch gestattet eine in den überlieferten Zahlenreihen nachprüfbare gute Darstellung des Naturgesetzes.

8. Die Hochseeschiffahrt.

So erscholl es, schlugen zusammen
Die langen Kiele und Kolgas Schwester (d. i. die Woge),
Als brächen Fels und Brandung entzwei; –
Höher noch heißte Helgi die Segel,
Den Wogen wichen die Wikinge nicht,
Als ingrimmig Ägirs Tochter
Die Steuerrosse stürzen Wollte.
Edda.

Die gewohnheitsmäßige Durchführung der Hochseeschiffahrt im Bereiche des Nordatlantik, vom Nordkap und Spitzbergen bis Marokko und Vinland an Amerikas Ostküste über 40 Breitengrade hinweg, hat bisher als ein Rätsel gegolten, weil man die germanischen Hilfsmittel auf Vogelflug, Zauber und Kenntnis der Meeresströmungen beschränkt glaubte. Angesichts des angeblichen Fehlens aller himmelskundlichen Überlieferungen haben angesehene Forscher die alten Nachrichten über Vinland und Grönland für ein Märchen erklärt. (Siehe Abb. 10 im Juniheft.)

Auf die Nutzung der Himmelserscheinungen wies aber schon die Erzählung von dem Isländer Bjarni Herjulfsson hin, der, vom Sturm verschlagen, im Jahre 980 als erster Europäer die amerikanische Küste erblickte: „Als sie wieder die Sonne sahen, vermochten sie die Himmelsgegenden zu teilen.“ Wie aber gelangte Bjarni von der unbekannten Küste an das Ziel seiner Fahrt, nach Grönland? Es gibt Segelanweisungen aus noch kompaßloser Zeit, nach denen das südgrönländische Vorgebirge Hvarf (Kap Egede) „gerade westlich“ vom norwegischen Bergen liegen sollte und in der Tat liegen beide auf dem gleichen 60. Breitengrad. Wodurch bestimmten die Schiffer Ortslage und Fahrtrichtung?

Der Kompaß (Leitstein) wurde erst um 1150 im germanischen Norden bekannt, war dort aber wegen der außerordentlich starken Änderung seiner Mißweisung (von 10 Grad in Norwegen, über 45 Grad auf Island bis 80 Grad in der Baffinsbai, wieder 10 Grad in Vinland; dagegen in China nur um ±5 Grad) bis zur Gewinnung örtlicher Erfahrung unbrauchbar. Noch Kolumbus segelte aus diesem Grunde nach dem Nordstern.

Für die germanische Schiffahrt kann als Hilfsmittel allein der Himmel in Betracht gekommen sein. Diese Kunst meinte schon das angelsächsische Runenlied des 7. oder 8. Jahrhunderts: Bei Tage führt den Schiffer die Sonne, bei Nacht das Nordgestirn. Und leicht war es nach diesem zu segeln; größere Schwierigkeit, den Steven etwa in jene genaue Westrichtung zu halten, bot die Sonne. Einen Fingerzeig gewährt uns Oddis Zahlenreihe von der Jahreswanderung der Dämmerungsaufgänge auf dem Himmelsrand für seine Beobachtungsbreite Nordisland. Voraussetzung dieser Hochseeschiffahrt ist die Zählung der Jahrestage, die wir für die norwegische Zeitrech-{617}nung um 550 nachgewiesen haben. Wie die Bestimmung der Sonnenhöhen in der Baffinsbai bezeugt, hatten die Schiffer solche Zahlenreihen im Gedächtnis. Die Tageszählung, indem sie die jahreszeitliche Veränderung des Sonnenortes zu berücksichtigen gestattete, ließ den Abstand des Tagaufgangs (einer ganz bestimmten Bogengröße) vom Nordpunkt und damit diesen Nordpunkt bestimmen, d. h. die Himmelsrichtung aus jener Zahlenreihe unmittelbar und erfahrungsmäßig entnehmen. Hatte der Schiffer in gestirnter Nacht die Fahrtrichtung mit leichter Mühe nach dem Leitstern innehalten können, so bot mit dem Verbleichen der Sterne die Dämmerungsrichtung die Fortsetzung der Kursbestimmung; der Sonnenaufgangsort (in ähnlicher Zahlenreihe festgelegt) setzte diese Möglichkeit fort. Mittags bot die Sonnenhöhe aus anderer Zahlenreihe ein neues Richtungsmittel, bis abends die Richtungen des Sonnen- und schließlich des Dämmerungsuntergangs das Schiff wieder der sicheren nächtlichen Führung durch den Leitstern überlieferten. Andere Gestirnhöhen und Sternaufgänge (etwa „Friggs Rocken“ in Ostmitte) konnten die Schiffsführung in ähnlicher Weise unterstützen, insoweit sie aus der nächtlichen Zeitbestimmung an Land bekannt waren. Selbst die Stellung des Mondes, dessen Veränderlichkeit beobachtet worden ist, konnte sicherer Erfahrung dienen.

Es ist klar, daß man günstige Wind- und Wetterverhältnisse abwartete, nicht nur um des Wetters, sondern gerade um der Sternsicht willen. Wegen der Sternunsichtbarkeit der hellen Sommernächte bevorzugte man in höheren Breiten Frühling und Herbst; größere Fahrten wurden nach den Zeugnissen nicht im Sommer, sondern im Frühling angetreten. Naddodd, einer der ersten Norweger, die Island sahen, fuhr von dort im Herbst nach den Färöern zurück; es muß aber Spätherbst gewesen sein, denn nach dem Berichte sah er bei der Abfahrt auf der Insel Schnee fallen, und man darf schließen, daß er günstigen Nordwestwind abgewartet hatte, der der Insel freilich den Schnee brachte, nicht aber ihm. Das norwegische Gesetz, das für die sommerliche Landarbeit die Leute im Lande behalten wollte, bestimmte ausdrücklich, daß jedermann im Frühling, Herbst und Winter nach Belieben fahren könne. Gleichwohl pflegte man wenigstens die großen Kauffahrer im Winter aufzulegen.

Es ist nicht zufällig, daß wir aus den äußersten Grenzen dieses weiten Bereichs, aus Vinland und aus Nordgrönland Bruchstücke astronomischer Ortsbestimmung besitzen, gleich der Bestimmung der Polhöhe verschiedenen Verfahrens, doch ebenso nachweislich selbständig und germanischen Ursprungs. Die Vergleichung dieser fernen Beobachtungen mit den Himmelserscheinungen im Heimathafen wird berichtet und ist das Geheimnis, das Schiffsort und Kurs bestimmte. Wie die dazu nötigen Beobachtungen in der Heimat durchgeführt wurden, hat uns noch der Stern-Oddi gezeigt.

Mit dem Himmel im Bunde, d. h. mit einer Zuverlässigkeit erster Ordnung konnten jauchzender Wagemut und unermüdliche Tatkraft, entbehrungverachtende Härte gegen sich selbst und todtrotzende Willensstärke eine Leistung vollbringen, die nicht nur in jener Zeit einzig war, sondern auch in den südlichen Kulturen kein Gegenstück fand.

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Rückblick und Ausblick

Zur Beurteilung der noch ermittelten Trümmer germanischer Himmelskunde werden von der Vorgeschichtswissenschaft nach dem Astronomen auch der Ethnologe, der Germanist, der Mythologe, der Religions- und Kulturgeschichtsforscher berufen werden. Wird die astronomische Beweisführung als zwingend anerkannt (soweit wir wissen, ist dies geschehen), so ist der Weg in die geistige Vorzeit der germanischen Stämme geöffnet, ein brauchbares Verfahren zur Wertungsmöglichkeit auch auf dem Gebiete der Religions- und Geistesgeschichte gewonnen.

Es ist zu prüfen, ob sogenannte „Naturvölker“ selbständig zu einer Achtjahrsregel gelangt sind, wie wir sie bei den Germanen wohl schon im Anfang unserer Zeitrechnung finden, ob die überlieferten Zahlenreihen (nebst anderen, von denen wir Spuren in dem astronomischen Bruchstück der Baffinsbai-beobachtung finden) Entsprechungen bei anderen Frühkulturen oder etwa bei den alten Römern haben. Wenn den germanischen Stämmen der Gebrauch des Sonnenjahrs oder des gebundenen Mondjahrs (siehe die Einleitung) als einem Naturvolk unter Berufung auf das Fehlen der erforderlichen astronomischen und mathematischen Vorkenntnisse abgesprochen wurde, so muß entweder der hier gebrachte Erweis beider Zeitrechnungsverfahren oder aber jenes bis jetzt herrschende Vorurteil umgestoßen werden.

Man hat aber der Frühzeit der germanischen Stämme nicht nur mathematisches Denken, sondern selbst die Möglichkeit der Bildung größerer Zahlen abgesprochen. Demgegenüber habe ich schon 1933 (im „Mannus“) die Eigenart eines urnordischen Zählbrauchs, die zur Bildung großer Zahlen geradezu herausfordert, sowie die Gebräuchlichkeit jener Zahlenbildung nachgewiesen. Man hat aus des großen angelsächsischen Kirchenlehrers Beda Bemühungen um die Anfangsgründe des Rechnens auf eine allgemeine Unfähigkeit seiner Rasse zu mathematischem Denken geschlossen, mit Unrecht den Sonderfall verallgemeinert. Zur Gewinnung der Uppsalaregel wie zu der Entwicklung der verschiedenen Zeitrechnungsformen gehörte nicht nur ein einfaches Rechnen, sondern auch die Gewinnung mittlerer Werte aus vielfältig schwankenden Beobachtungen. Die Summe einer natürlichen Zahlenreihe, die jedem Tage zwischen den Sonnwenden ein Steigen oder Sinken der Sonnenmittagshöhe um die Hälfte des scheinbaren Durchmessers beilegt, wandelt Oddi beobachtend in eine Zahlenreihe um, die das Gesetz der Beschleunigung und Verlangsamung der Sonnenbewegung sucht und mit guter Annäherung darstellt. Das ist ein Beweis mathematischen Tiefblicks, wie er immer nur einzelnen Begabungen angeboren zu sein pflegt. Ist doch auch die griechische Gesamtleistung zu ihrer weltgeschichtlichen Höhe nur in Einzelgestalten gelangt. Denselben rechnerischen Scharfsinn wie die genannte arithmetische Reihe und klares Raumdenken bezeugt auch Oddis Formel über die Verschiebung des Sonnwendeintritts im julianischen Schaltkreis, eine Frage, die nur im Zusammenprall der heidnischen mit der kirchlich-julianischen Zeitrechnung, d. i. mit dem Jahre 1000 und nach der ingrimmigen, aber vertragsmäßigen Unterwerfung der heidnischen Insel unter die norwegisch-kirch-{619}liche Macht austauchen konnte. Wir werden uns von einem abschließenden Urteil zurückhalten. Es hat vielleicht ein höheres Wissen gegeben, als uns heute noch feststellbar ist; bis zur Beibringung neuer Zeugnisse aber wird man sich an dem Erwiesenen genügen lassen müssen.

In dieser kurzen Übersicht allerdings konnten selbst so wichtige Gegenstände wie die Verfahren der Ortsbestimmung an den unbekannten amerikanischen und nordgrönländischen Küsten, die altfäröerischen Meßgeräte zur Breiten- und Längenbestimmung, Sonnbord und Sonnenschattenbrett, die Wasseruhr in Eyktteilung, der Sonnenstein, das herrliche Lehrgedicht des Westgotenkönigs Sisebut aus dem Jahre 614, die nordische himmelskundliche Klärung der griechischen Hyperboreersage und vieles andere kaum erwähnt werden. Den Grad der Zerstörung innerhalb der Masse bedeutsamer Einzelheiten zeigen die Quellen und Texte, die Berechnungen und Verfahren, die in meiner „Germanischen Himmelskunde“ niedergelegt sind.

Von dieser Überlieferung senkt sich der Blick in die Tiefe der Vorzeit. Die germanische Richtlegung des Grabes, des Hauses, des Thinghügels hat sich über einer alteuropäischen Grundlage, älter als Babylon, selbständig entwickelt, in einer Zeit, in der auch das älteste germanische Richtungsbild aus der Beobachtung des Sonnenkreislaufs entstand. Auf Grund der neuen fachmännischen Vermessungen durch die Astronomen Prof. J. Hopmann und Rolf Müller können nun auch die wichtigeren vorgeschichtlichen Richtungsvorkommen, die Steinkreise von Odry in Westpreußen, die schon 1914 durch Paul Stephan entdeckt und erklärt wurden, die Sonnenluke des Externstein-Turmfelsens, an die sich der Name von Wilhelm Teudt knüpft, ähnlich der Sonnwendrichtung von Stonehenge als bestätigt und in ihrer Bedeutung als wahrscheinlich gesichert gelten. Die Ortungsvermutungen um den Hof Gierke sind dagegen durch die glänzenden Grabungen von Prof. H. Reinerth widerlegt worden.1

Der Vergleich jener steinernen Vorzeiturkunden mit der quellenmäßigen Überlieferung zeigt eine fortschreitende reiche Entwicklung der Himmelskunde auf germanischem Boden unter Überwindung der großen klimatischen Erschwerungen, und trotz der geschichtlichen Zerstörung gelegentlich ein für so alte Zeiten meisterhaftes Beobachten und Denken. Die volle Unabhängigkeit der germanischen Himmelskunde vom südlichen und östlichen Altertum ist erwiesen.


1 Vgl. Paul Stephan, Mannus 1914, 213 f. – W. Teudt, Germ. Heiligtümer, 1926 f. – H. Röhrig, Heilige Linien durch Ostfriesland, Aurich 1930. – J. Andree, Die Grabungen an den Externsteinen im J. 1934, Nachr. f. Deutsche Vorzeit 1935, H. 1. – J. Hopmannn, Die Ortung an den Externsteinen, Mannus 1935, 143 ff. Methodisches zur vorgeschichtlichen Sternkunde I. II, Mannus 1934, 261 ff; 1935, 373 ff. – H. Reinerth, Grabungsbericht auf der Vorgeschichtlichen Tagung zu Bremen, 1935. – Rolf Müller, Himmelskundliche Ortung auf nordisch-germanischem Boden, Curt Kabitzsch Leipzig 1936. – Zum mathematischen Verständnis und zur Einführung des Gegenstandes in den Schulunterricht s. Jos. Hogrebe, Himmelskunde bei den Germanen, Anwendungen und Aufgaben nebst Lösungen, Verlag Otto Salle Frankfurt a. M. 1936: Mathematisch-Naturwissenschaftlich-Technische Bücherei, Band 30.